Donnerstag, 3. Dezember 2009

Vortrag vonProf. Dr. Manfred Kappeler

Vortrag auf der ver.di-Veranstaltung zur Kritik des im Auftrag des Berliner Senats
von der Firma Steria Mummert Consulting konzipierten „Musterjungendamtes“
am 4. November 2009

Der geplante Ausverkauf der Kinder- und Jugendarbeit durch die Oberste Landesjugendbehörde und die Bezirks-Jugendämter in Berlin
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aufgaben der Kinder- und Jugendarbeit nach § 11 KJHG/SGB VIII gehören zu den mit dem höchsten Grad rechtlicher Verbindlichkeit ausgestatteten Leistungen der Jugendhilfe:
§ 11 Jugendarbeit
(1) Junge Menschen sind (Hervorhebung M.K.) die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung bewegen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.“
Mit dieser Formulierung wurde der Jugendarbeit im Unterschied zum alten Jugendwohlfahrtsgesetz eine rechtlich fundierte eigene Bedeutung zugebilligt.
In § 79 SGB VIII (Gesamtverantwortung/Grundausstattung) ist eine allgemeine Gewährleistungspflicht der Öffentlichen Träger der Jugendhilfe festgelegt, die bezogen auf die Jugendarbeit folgendermaßen formuliert ist: „Von den für die Jugendhilfe bereitgestellten Mitteln haben sie einen angemessenen Anteil für die Jugendarbeit zu verwenden.“
Im Handbuch „Kinder- und Jugendhilferecht“, herausgegeben von den führenden Kommentatoren des KJHG, Johannes Münder und Reinhard Wiesner, heißt es: „§ 11 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist insoweit unzweifelhaft eine ‚Muss-Bestimmung’: Sie enthält eine klare und eindeutige Leistungsverpflichtung (Hervorhebungen im Text) des örtlichen Trägers der Öffentlichen Jugendhilfe, diese Angebote zur Verfügung zu stellen bzw. im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips und in Wahrnehmung der Gesamtverantwortung/Gewährleistungsverpflichtung nach § 79 SGB VIII dafür zu sorgen, dass Angebote der Jugendarbeit in bedarfsgerechtem Umfang zur Verfügung gestellt werden. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII lässt in dieser Hinsicht nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig (…) Hinsichtlich des ‚Ob’ der Gewährleistungsverpflichtung des Öffentlichen Trägers kann es mithin keinen Zweifel geben. Es wäre eindeutig gesetzeswidrig, wenn keine oder nur völlig unzureichende Angebote unterbreitet würden.“ (Münder/Wiesner 2007. 194ff.)
Die Kinder- und Jugendarbeit soll Kindern und Jugendlichen „die Möglichkeit der Teilnahme an allgemein zugänglichen Veranstaltungen oder Maßnahmen oder die Möglichkeit der Nutzung von Diensten und Einrichtungen der Jugendarbeit“ gewährleisten, „deren Art, Inhalt, Dauer und Anzahl sich nach den durch die örtliche Jugendhilfeplanung (§ 80 SGB VIII) zu ermittelnden Bedarf richten“. (Münder/Wiesner, a.a.O.)

Um den „angemessenen Anteil“ der Kinder- und Jugendarbeit am Gesamtbudget der Jugendhilfe wurde in Berlin in den Neunzigern ein jahrelanger Kampf von den im Landesjugendring zusammengeschlossenen Jugendverbänden und Freien Trägern der Jugendarbeit und einem einzelnen Freien Träger (Kinderfarm Wedding) mit dem Senat ausgefochten, der immerhin das Ergebnis hatte, dass von den geforderten 25% des Jugendhilfeetats, die der Landesjugendring nach seinen Bedarfsberechnungen für angemessen hielt, 10% im Berliner Gesetz zur Ausführung des KJHG (AG KJHG) festgeschrieben wurden. Diese Bestimmung gilt noch heute. Als das Gesetz 1995 verabschiedet wurde, wäre das eine Steigerung von circa 25 Millionen DM für die Kinder- und Jugendarbeit in Öffentlicher und Freier Trägerschaft gewesen. Dazu ist es nie gekommen. Im Gegenteil. Ich schätze, dass der Anteil der Kinder- und Jugendarbeit am Jugendhilfeetat, der damals nach meiner Erinnerung bei 5,6% lag, heute etwa 3,5% beträgt. Das sind Durchschnittszahlen für das Land Berlin, wie es bei den einzelnen Bezirks-Jugendämtern aussieht, müsste jeweils geprüft werden. Die Senatsjugendverwaltung bezeichnet die 10% im AG KJHG als eine Selbstverpflichtung, deren Realisierung sich nach der allgemeinen Haushaltslage richte und keinen rechtlichen Anspruch eröffne. Klagen des Landesjugendrings und der Weddinger Kinderfarm gegen diese Verletzung des § 10 AG KJHG bei den Berliner Verwaltungsgerichten hatten keinen Erfolg beziehungsweise endeten in einem Vergleich. Allerdings ging der juristische Vertreter des Landesjugendamts auf der Grundlage der Urteilsbegründung des Berliner Oberverwaltungsgerichts in einem Vermerk vom März 1997 davon aus, „dass bei andauerndem Verstoß gegen § 48 Abs. 2 AG KJHG nicht doch eines Tages eine verstärkte Rechtsstellung des Freien Trägers begründbar wäre. Es bleibt daher auch aus rechtlichen Gründen die Notwendigkeit bestehen, unsere Bemühungen für die Realisierbarkeit des § 48 Abs. 2 AG KJHG (10%-Regelung für die Kinder- und Jugendarbeit, M.K.) fortzusetzen. Die Darstellung der Finanzsituation im Landesjugendplan wird hierzu weitere Anhaltspunkte liefern.“ Teilnehmer an der mündlichen Verhandlung vor dem OVG erinnern sich, dass der Vorsitzende Richter damals die Auffassung vertreten habe, die 1995 in das AG KJHG aufgenommene 10%-Regelung habe im Jugendhilfeetat des Jahres 1996 noch nicht zur Wirkung kommen können weil das Land Berlin nicht ausreichend Zeit genug gehabt habe, die Verpflichtungen aus dem AG KJHG zu erfüllen. Inzwischen besteht diese gesetzliche Regelung seit vierzehn Jahren. Sie ist in diesem Zeitraum noch nie erfüllt worden und es wäre an der Zeit, dass der Landesjugendring Berlin oder ein einzelner Träger der Kinder- und Jugendarbeit eine Klage beim Verwaltungsgericht einreicht. Den Anlass dafür könnte die jetzt in großem Umfang von den Berliner Bezirks-Jugendämtern geplante Übertragung der Kinder- und Jugendarbeit nach § 11 KJHG an Freie Träger liefern, die mit dem erklärten Ziel der Kosteneinsparung im Jugendhilfeetat der örtlichen Öffentlichen Jugendhilfeträger angestrebt werden. Nach einem Urteil des 5. Senats des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 17. Juli 2009 gilt bei der Finanzierung der Freien Träger nach § 74 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII das Gebot der Gleichbehandlung der Aufwendungen der Träger der Freien Jugendhilfe mit den Aufwendungen der Öffentlichen Jugendhilfe und zwar auch dann, wenn der Öffentliche Jugendhilfeträger selbst eine gleichartige Maßnahme nicht durchführt. Eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Art und Höhe der Förderung der einzelnen Träger der Kinder- und Jugendarbeit erfordere ein hinreichendes jugendhilferechtliches Maßnahmenkonzept einschließlich einer durch den Träger der Öffentlichen Jugendhilfe vorzunehmenden Prioritätensetzung (Förderkonzeption). Das Bundesverwaltungsgericht verweist in diesem Zusammmenhang immer wieder auf die Bedeutung der Jugendhilfeplanung. Dieser Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts könnte meines Erachtens die Chancen für eine Entscheidung der Berliner Verwaltungsgerichte bezogen auf § 48 AG KJGH (10%-Regelung) im Interesse der Kinder- und Jugendarbeit in der Stadt erhöhen.
Die sachliche Zuständigkeit für die Aufgaben der Jugendhilfe nach § 11 und 12 liegt beim örtlichen Träger, der nach § 85 in Verbindung mit § 2 SGB VIII auch die Finanzierung dieser Aufgaben gewährleisten muss. Dazu gehört die Kinder- und Jugendarbeit des Öffentlichen und der Freien Träger im Zuständigkeitsbereich eines Jugendamtes. In § 11 KJHG Abs 2 werden neben „Verbänden, Gruppen und Initiativen der Jugend“ und „anderen Trägern der Jugendarbeit“ die „Träger der Öffentlichen Jugendhilfe“ ausdrücklich als Anbieter von Jugendarbeit genannt. Zwischen diesen Trägern hat sich in der Praxis im Laufe von Jahrzehnten eine Arbeitsteilung bezogen auf die in § 11 Abs. 2 genannten Hauptgebiete der Jugendarbeit herausgebildet: Die „für Mitglieder bestimmten Angebote“ machen Jugendverbände und -organisationen,“ die Offene Jugendarbeit „wird ganz überwiegend von den kommunalen Jugendämtern (in Berlin fast zu 100%) getragen und die“ gemeinwesenorientierten Angebote „werden überwiegend von lokalen Initiativen und Gruppen (oft kleine Freie Träger, die einem Dachverband wie z.B. dem DPWV angehören) getragen. Diese plurale Struktur der Träger der Kinder- und Jugendarbeit ist vom Gesetzgeber gewollt. Im „Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum KJHG/SGB VIII“ heißt es dazu: „Auch die Träger der Öffentlichen Jugendhilfe können Anbieter der Jugendarbeit sein. Gerade zur Sicherung eines pluralen Angebots und im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung (§ 79) kommt ihren Angeboten ein hoher Stellenwert zu.“
Die von den Jugendämtern zu finanzierenden Angebote der Kinder- und Jugendarbeit der Öffentlichen und der Freien Träger sollen das Ergebnis einer Jugendhilfeplanung sein, die sich an den für die Kinder- und Jugendarbeit entwickelten fachlichen Standards zu orientieren hat. Die heißen:
– prinzipielle Freiwilligkeit
– Anknüpfen an den Interessen junger Menschen
– Partizipation und Selbstbestimmung
– Befähigung zur gesellschaftlichen Mitverantwortung und sozialem Engagement
– Ganzheitlichkeit bezogen auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen.
Das Ganze hat zu erfolgen in demokratischen Organisationsstrukturen der Träger der Kinder- und Jugendarbeit, die die Voraussetzungen dafür bieten, dass das Partizipationsgebot nach § 8 KJHG in der Alltagspraxis verwirklicht wird.
Die Jugendhilfeplanung darf sich nicht an restriktiven Haushaltsvorgaben der Verwaltung orientieren. Ihre Vorgaben sind einzig und allein die Bedürfnisse und Interessen der Kinder und Jugendlichen und die entwickelten sozialpädagogischen Standards, mit denen darauf geantwortet wird. Auf dieser von der bezirklichen Jugendhilfeplanung entwickelten Grundlage muss der Kinder- und Jugendhilfeausschuss über die konkrete Ausgestaltung der Kinder- und Jugendarbeit entscheiden. Die verantwortliche Fachbehörde des Bezirksamts muss diese Entscheidungen fachlich und finanziell realisieren.

Unter dem Druck der Mittelkürzungen für die Jugendhilfe, die nach den Statistiken im 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (Mai 2009) für die Kinder- und Jugendhilfe allein in den Jahren 2004 bis 2006 zu einem Abbau von 28,1% der Personalstellen im Bundesdurchschnitt geführt haben (die Zahlen in Berlin und in den neuen Ländern liegen darüber) haben sich die Öffentlichen Träger in Berlin schon lange immer mehr aus der Subventionsfinanzierung gemäß § 74 SGB VIII mit geradezu dramatischen Auswirkungen auf Freie Träger zurückgezogen, mit dem Argument, nur so ihre eigene Kinder- und Jugendarbeit weiter finanzieren zu können. So hatte zum Beispiel die Evangelische Jugendarbeit im Kirchenkreis Charlottenburg noch vor fünfzehn Jahren an die zwanzig hauptamtliche MitarbeiterInnen in der Kinder- und Jugendarbeit mit einem Schwerpunkt in der Offenen Arbeit. Heute gibt es dort noch vier volle Stellen, die sich zehn MitarbeiterInnen teilen müssen. Die letzte Einrichtung mit Offener Jugendarbeit hat vor wenigen Wochen geschlossen. So oder ähnlich sieht es in den anderen Kirchenkreisen auch aus. In Neukölln war die Offene Jugendarbeit ein Schwerpunkt der Evangelischen Kirche in den siebziger/achtziger Jahren und hatte mit ihrer Praxis und Theorie Bedeutung weit über Berlin hinaus. Heute ist nichts mehr davon übrig, und die Kirche konzentriert sich mit ihren bescheidenen Mitteln inzwischen auf gemeindeorientierte Aktivitäten, in denen die Standards einer emanzipatorischen, allen Kindern und Jugendlichen zugänglichen Jugendarbeit kaum noch eine Rolle spielen. Das bedeutet im Klartext, die einmal entwickelten Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit Freier Träger wurden in den zurückliegenden zehn bis fünfzehn Jahren weitgehend zerstört. Eine halbwegs den Standards der Kinder- und Jugendarbeit personell, räumlich und sächlich entsprechende Finanzierung gibt es heute fast nur noch in kommunaler Trägerschaft. Damit soll jetzt aber auch Schluss gemacht werden. Die Bezirksämter wollen ihre Kinder- und Jugendarbeit als angeblich nicht zu den Kernaufgaben des Jugendamtes gehörend, auf Freie Träger übertragen, wie es im Bezirk Friedrichshain/Kreuzberg in geradezu skandalöser Missachtung der aus § 11 KJHG resultierenden Verpflichtungen mit rein fiskalischen Begründungen gegenwärtig versucht wird.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Prinzipiell können Freie Träger ebenso wie Öffentliche Träger eine qualitativ gute Kinder- und Jugendarbeit machen. Ich selbst habe zehn Jahre Offene Jugendarbeit im Kirchenkreis Neukölln gemacht. Sie brauchen dafür aber die Mittel und die qualifizierte fachliche Partnerschaft vom Öffentlichen Träger. Der aber will sich mit Berufung auf das „Leitbild Jugendamt“ aller Aufgaben entledigen, die „in vollem Umfang übertragbar“ sind, um gerade diese Bedingungen der Subventionsfinanzierung gemäß § 74 KJHG nicht erfüllen zu müssen.
Diese Auffassung hat sich der Öffentliche Jugendhilfeträger durch die gigantische Untersuchung der Steria Mummert Consulting auf 316 Seiten aufgeblasenen Wortgeklingels bestätigen lassen. Bei dieser „Untersuchung“ handelt es sich um eine eindeutig nach strikt politischen Vorgaben durchgeführte Auftragsarbeit, deren Umsetzung die Aushebelung der Rechtsförmigkeit der Jugendhilfe im Land Berlin bedeuten würde. Ich zitiere aus dem „Muster-Jugendamt“ nach Steria Mummert:
„Das Aufgabenspektrum des Musterjugendamtes soll sich im Hinblick auf die allgemeine Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII), die Jugendsozialarbeit (§ 13 Abs. 1 und 4 SGB VIII), den Kinder- und Jugendschutz (§ 14 SGB VIII) sowie die Familienförderung (§ 16 Abs. 1 SGB VIII) auf die Angebotsinitiierung, -steuerung und -verwaltung fokussieren.

Die Vorhaltung eigener Angebote der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Familienförderung (z.B. öffentliche Jugendfreizeiteinrichtungen oder Projekte der Familienförderung etc.) zählt nicht zu den Kernaufgaben des Jugendamts (…) Bereits heute werden in allen untersuchten Bezirken Angebote nach §§ 11, 13, 14 und 16 SGB VIII von Freien Trägern bereitgestellt. Der nicht in die Untersuchungen einbezogene Berliner Bezirk Lichtenberg hat beispielsweise bereits 17 von 20 öffentlichen Jugendfreizeiteinrichtungen (JFE) an Freie Träger übertragen. Insofern kann zumindest für den Bereich der Jugendfreizeiteinrichtungen von der Verfügbarkeit einer ausreichenden Anzahl Freier Träger in Berlin ausgegangen werden, die in der Lage sind, ein qualitativ hochwertiges Angebot zu realisieren und die erforderliche Trägerpluralität zu sichern.

Zugleich signalisiert die Kosten- und Leistungsrechnung (2007), dass die erweiterten Teilkosten in Jugendfreizeiteinrichtungen in freier Trägerschaft mit berlinweit durchschnittlich 30 Euro pro Angebotsstunde deutlich um 23 Euro unter dem Niveau öffentlicher Angebote in Höhe von 53 Euro liegen (s. Kapitel 4.5). Nach Abzug der Abteilungsamts- und Referatsumlage reduziert sich diese Differenz im Mittel über die fünf Untersuchungsbezirke auf 17 Euro. Insofern erscheint eine Übertragung öffentlicher Jugendfreizeiteinrichtungen an Freie Träger unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit sinnvoll.“
Bei diesem Vorschlag wird nicht gefragt, wie die billigerer „Angebotsstunde“ (und die ist für die Berechnung der Kosten für eine fachlich qualifizierte Kinder- und Jugendarbeit schon sowieso eine untaugliche Berechnungsgrundlage) in der Kinder- und Jugendarbeit Freier Träger eigentlich zustande kommt: Nämlich über Arbeitsverträge, die finanziell, arbeitsrechtlich und hinsichtlich der Gesundheits- und Altersversorgung die MitarbeiterInnen an die Grenze des „Prekariats“ bringt und die Kinder- und Jugendarbeit in personeller, räumlicher und sachmittelmäßiger Hinsicht zum Armenhaus der Jugendhilfe machen würde. Unter diesen Voraussetzungen werden sich nur solche Freien Träger um die angebotenen Jugendeinrichtungen der Bezirke bewerben können, die, wie die Sportjugend und andere Sozialkonzerne, über genügend Eigenmittel verfügen, um die eingehandelten Nachteile ausgleichen zu können. Eine solche Reduzierung würde dem in § 11 festgeschriebenen Träger-Pluralismus widersprechen. Das wird auch vom Bundesverwaltungsgericht in dem oben zitierten Urteil so gesehen. Solche Träger haben aber keine Tradition und Erfahrung mit einer auf Offenheit und Partizipation und Wahrnehmung ganz unterschiedlicher Bedürfnisse und Interessen von Kindern und Jugendlichen in ihrer freien Zeit angelegten Arbeit.

Mit diesem Vorhaben missachten die Öffentlichen Träger eklatant das zentrale Partizipationsgebot nach § 8 KJHG. Wer fragt eigentlich die Kinder und Jugendlichen, die die Räume der Jugendarbeit aufsuchen, ob sie diesen angestrebten Trägerwechsel, verbunden mit MitarbeiterInnen-Wechsel, voraussehbaren inhaltlichen Veränderungen und Ausstattungsverschlechterungen haben wollen? Und wer fragt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die diese Arbeit gegenwärtig machen? Die MitarbeiterInnen der Kinder- und Jugendarbeit im Bezirk Friedrichshain/Kreuzberg haben erst kürzlich ein umfangreiches Entwicklungs- und Planungspapier für ihre Arbeit in den Jahren 2010/2011 vorgelegt. Ihr Engagement wird nicht wertgeschätzt. So wie ihnen geht es vielen Kolleginnen und Kollegen, die jetzt die Erfahrung machen werden, dass ihre engagierte sozialpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen lediglich ein Verfügungsposten im fiskalischen Rechenspiel ist. Die allermeisten von ihnen werden von ihrem arbeitsrechtlich verbrieften Options-Recht gebrauch machen, sich nicht auf ungewisse Beschäftigungsverhältnisse bei von „Zuwendungen“ des Öffentlichen Trägers der Jugendhilfe abhängigen Freien Trägern einlassen und frustriert in den „Stellenpool“ des Innensenators wandern. Dieser Stellenpool, der in Berlin schon seit vielen Jahren jede fachlich angemessene Personalentwicklung in den Jugendämtern verhindert, wird durch solche fragwürdigen Strategien der „Haushaltskonsolidierung“ immer wieder aufgefüllt.

Es gibt aber noch einen anderen wesentlichen Grund, den Steria-Mummert-Vorschlag für ein sogenanntes Muster-Jugendamt und die Aufgabenreduzierung der Jugendämter nach dem Berliner „Leitbild Jugendamt“ abzulehnen, den Reinhard Wiesner, einer der Architekten des KJHG kürzlich in einem Interview formuliert hat. Ich zitiere:
„Selten zuvor in meiner langjährigen ministeriellen Zuständigkeit für die Kinder- und Jugendhilfe habe ich eine solche Diskrepanz zwischen der politischen und der fachlichen Einschätzung im Hinblick auf einen gesetzlichen Regelungsbedarf wahrgenommen, wie bei dem von Ihnen zitierten Kinderschutzgesetz.“ Er habe die Sorge, „dass die medial gestützte Diskussion um den Kinderschutz in den letzten Monaten im Hinblick auf die Aufgaben der Jugendhilfe, speziell des Jugendamts, die Gefahr birgt, dass Kinder- und Jugendhilfe wieder auf Gefahrenabwehr und Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung reduziert wird und damit Kurskorrekturen vorgenommen werden. Das wäre tatsächlich ein Rückfall in Zeiten, die wir längst überwunden glaubten. Es wäre geradezu zynisch, wenn sich der Staat aus seiner präventiven und familienunterstützenden Rolle (und dazu zählen erklärtermaßen alle die Aufgaben der Jugendhilfe, die laut ‚Leitbild’ und ‚Musterjugendamt’ nicht zu den ‚Kernaufgaben’ des Jugendamts gehören sollen, M.K.) zurückzöge und abwartete, bis die familiären Belastungen als Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung zu deuten sind und damit seine Eingriffsfunktion aktuell wird (…) Dabei darf aber Prävention nicht als vorbeugende Kontrolle verstanden beziehungsweise missbraucht werden.“ (Das Interview kann nachgelesen werden in: Übergänge – Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Festschrift zum sechzigjährigen Bestehen der AGJ, Hrsg. Arbeitgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, Berlin 2009, S. 46ff.)
In der Tat: Es handelt sich um nichts weniger als um einen Paradigmenwechsel, dem das freundliche und fördernde sozialpädagogische Gesicht des Jugendamts, das in einem langen schwierigen Reformprozess entwickelt worden ist und dringend weiterer Entwicklung bedarf, zum Opfer fallen wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts dieser Situation muss man es hoch einschätzen, wenn Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe in allen ihren Bereichen den Belastungen standhalten und sich nicht resigniert auf die Alltagsroutine zurückziehen. Das gilt meines Erachtens besonders für Kolleginnen und Kollegen in den Jugendämtern. Sie erreicht der Druck über haushaltspolitische Entscheidungen und die mit Recht kritische Berichterstattung in den Medien zuerst und es fordert sozialpädagogische Zivilcourage, mit standzuhalten und den Druck nicht an die freien Träger, Kinder, Jugendliche und Familien weiterzugeben. Es ist nicht leicht, unter diesen restriktiven Vorgaben die auf Offenheit und Partizipation angelegte Kooperation mit freien Trägen zu entwickeln und durchzuhalten, wenn in der Hierarchie der Jugendämter interne Partizipation klein geschrieben wird. Und es ist für freie Träger schwer, nicht in die auf dem Markt der Jugendhilfe-Subventionen aufgestellten Konkurrenzfallen zu laufen und noch schwerer, Erfahrungen des Scheiterns, die in der Kinder- und Jugendhilfe zum Alltag gehören, offen zu diskutieren, wenn einem ständig der Nachweis von vor-definierten Erfolgen abverlangt wird. Nach meiner Wahrnehmung ist eine Ursache für Resignation und Frustration vieler KollegInnen der krasse Widerspruch zwischen den populistischen Schönwetter-Reden von PolitikerInnen in Bund, Ländern und Kommunen, die heute mit einem elaborierten
erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Sprachgestus geführt werden und ihren restriktiven haushaltspolitischen Entscheidungen, die den Arbeitsalltag in den Ämtern, den Einrichtungen, den Initiativen und Projekten präjudizieren. Mein Eindruck ist, dass die Schere zwischen propagandistischer Rhetorik und Wirklichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe in den fünfzig Jahren meiner Zeit in diesem Feld noch nie so groß war wie heute. Dem entspricht auf den Leitungsebenen so mancher öffentlicher und privater Träger der von Hans Thiersch als „Manageralismus“ bezeichnete Sprachgestus von Amtsinhabern und Funktionären, mit dem sie sich den politischen Vorgaben anpassen. (Vgl.: Die gesellschaftliche Realität der Kinder- und Jugendhilfe – Ein Gespräch von Norbert Struck mit Hans Thiersch. In: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe. 2009f, S. 73ff.)
Dem allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir nicht hilflos ausgesetzt sein, wenn wir es nicht wollen. Wir müssen unseren Widerstand auch nicht defensiv darauf beschränken, das in den vierzig Jahren Jugendhilfereform Erreichte, aus dem wir ja aus guten Gründen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein ziehen können, zu verteidigen, sondern können uns selbst ermächtigen, kritisch und offensiv für ein „gerechtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen“ in dieser reichen Gesellschaft einzutreten, wie es der 13. Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag im vergangenen Jahr als jugendpolitische Leitlinie der Kinder- und Jugendhilfe formuliert hat:
„Zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es, mit ihren Angeboten, Hilfen und Leistungen dazu beizutragen, jungen Menschen in ihrer individuellen sozialen Entwicklung, insbesondere mit der jugendpolitischen Perspektive der Befähigung zu und der Verwirklichung von Bildung, Integration und Teilhabe zu fördern, und Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. (…)
Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1 Abs. 1 SGB VIII).“

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